Adobe Stock / Наталия Кузина
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Das System Schule muss endlich lernen

15. März 2021, Gaby Flösser

 Für alle Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen startet nach vielen Wochen des Distanzlernens der Wechselunterricht. Viele hatten etwas neidisch auf die Kinder und Jugendlichen der Grundschulen und Abschlussklassen geblickt, die schon länger wieder in die Schule dürfen. Woher kommt die Freude auf ein System, dem viele sonst eher zwiespältig gegenüberstehen? Prof. Dr. Gaby Flösser ist Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes in Nordrhein-Westfalen. Sie sieht in dieser Zeit eine große Chance für gemeinsames Ausprobieren, Lern-Experimente und mehr Mitbestimmung der Kinder und Jugendlichen. Ein Kommentar von Gaby Flösser, Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes NRW. 

Wir wollen in die Schule

Viele Schülerinnen und Schüler können es kaum erwarten, in der nächsten Woche den heimischen Computer hinter sich zu lassen und wieder im Klassenzimmer zu lernen. Da wundern sich die Erwachsenen: So viel ungebremste Begeisterung? Schullust als Folge der Corona-Pandemie?

Hier gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht: Die gute Nachricht ist, dass die Schule sich offensichtlich zu einem Ort entwickelt hat, der für Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag ungemein wichtig ist. In der Schule trifft man Freunde, man macht Sport und musiziert zusammen, man isst gemeinsam und es wird in Gruppen zusammengearbeitet. Begleitet und unterstützt wird man von erwachsenen Bezugspersonen, den Lehrerinnen und Lehrern. Die Schule ist ein sozialer Ort.

Die schlechte Nachricht ist, dass genau diese Qualität durch Schulöffnungen alleine nicht eingelöst werden kann. Von einem Regelbetrieb sind die Schulen weit entfernt, die Corona-Maßnahmen gelten weiterhin. Be- und Einschränkungen durch Masken, Lüften, Abstand – all das bestimmt nach wie vor den Alltag. Ein sozialer Ort in Distanz und mit möglichst wenigen Kontakten – was bleibt da übrig?

Raus aus dem Hamsterrad

Schule in Zeiten der Pandemie ist wie ein Fels in der Brandung. Unerschütterlich in ihren Grundfesten trotzt sie dem Virus, aber auch den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen. Statt den Jubel über geöffnete Schulen als Chance zu begreifen, ist das Zurück in die Normalität „vor Corona“ das Ziel. Im Hamsterrad von Tests, Klassenarbeiten, Noten, Zeugnissen und Abschlüssen fügen sich die Schülerinnen und Schüler den Erwartungshaltungen der Leistungsgesellschaft, ohne Plan, machtlos und enttäuscht.

Mehr Rechte im Klassenzimmer

Die Kinderrechte sind in der Schule von ihrer Verwirklichung weiter entfernt denn je. Insbesondere die Beteiligungsrechte wurden komplett ignoriert. Welche Corona-Regel ist unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen aufgestellt, welches Hygienekonzept gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern geschrieben worden? Wir reden wieder viel über die schweren Folgen der Schulschließungen für die Kinder und Jugendlichen. Mit ihnen zu reden steht eher selten auf der Agenda. Dabei werden die Fähigkeiten, die Kinder und Jugendliche bei geschlossenen Schulen erworben haben, ignoriert und nicht wertgeschätzt. Der Digitalisierungsschub wird auf die reine Versorgung mit digitalen Endgeräten reduziert und die gestiegene Medienkompetenz aller Schülerinnen und Schüler als qualitativer Zugewinn nicht anerkannt.

Schule: Mehr Raum für Lern-Experimente

Dies ist umso erstaunlicher, da das Leben in und mit der Pandemie nun gerade für Schülerinnen und Schüler kein unbekanntes Phänomen darstellt. Immerhin beenden wir nun schon das zweite Schuljahr in Folge unter diesen ungewöhnlichen Umständen.

Es wäre an der Zeit, diese Chance zu ergreifen und die gemachten Erfahrungen, Ängste, Wünsche und Interessen der Kinder und Jugendlichen für eine Weiterentwicklung der Schulen zu nutzen. Denkbar und aus meiner Sicht auch sehr wichtig wäre es, während der verbleibenden Schulmonate neue Möglichkeiten des Unterrichts auszuprobieren, gemeinsam hybride Lehrformate zu entwickeln oder die Teamfähigkeit online zu bilden. Es gilt, die Schule als sozialen Ort unter den Bedingungen einer Pandemie neu zu denken.

Stattdessen wird auf der Einhaltung der Lehrpläne bestanden und das Abarbeiten erprobter Wissensbestände in den Mittelpunkt gestellt. Damit hat sich die Schule endgültig von ihrem Anspruch verabschiedet, einen entscheidenden Beitrag zur Persönlichkeitsbildung bei Kindern und Jugendlichen zu leisten. Der Jubel über die geöffneten Schulen dürfte so schnell verklingen und Enttäuschungen über den wahren Zustand der Schulen weichen.