Foto: Adobe Stock, Biryukov Pavel
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Aufwachsen

Rausgehen, durchatmen, Hilfe holen

Rausgehen, durchatmen, Hilfe holen: Wenn Kinder den eigenen Willen entdecken.
10. Juli 2019, Jörn-Jakob Surkemper

„Das war, wie ich mir einen Burn-out oder eine postnatale Depression vorstelle“, erinnert sich Bettina Behrents*. Die Überforderung mit ihrem damals vierjährigen Sohn und ihrer neun Monate alten Tochter war damals so groß, dass ihr einige Male auch „die Hand ausgerutscht“ sei. Ihr Sohn Tim war damals in der sogenannten Trotzphase. Beim Aufstehen und Fertigmachen, beim Zähneputzen, Händewaschen oder Zubettgehen – immer gab es Widerstände. Hinzu kam die Mehrfachbelastung durch das zweite Kind und einen bevorstehenden Umzug. Bettina Behrents: „Mein Sohn hat in manchen Situationen dann auch gehauen. Und irgendwann habe ich dann mal zurückgehauen. Das tat mir anschließend tierisch leid.“

Hilfe holen hilft

Heute gehe sie anders mit derartigen Situation um, sagt die 39-Jährige: „erst mal rausgehen, vielleicht auf den Balkon, und ein paar Mal tief durchatmen. Und ich würde mir viel früher Hilfe holen – auch im Alltag.“ Damals habe sie Angst gehabt, gegenüber anderen Schwäche zu zeigen – gerade sie als gelernte Erzieherin. Doch für viele Situationen gebe es in den Lehrbüchern keine Patentrezepte. Die zweifache Mutter ermutigt andere Eltern daher, keine Scheu zu haben, sich Hilfe zu holen: „Viele freuen sichja sogar, wenn sie zum Beispiel mal auf die Kinder aufpassen können.“ Auch Fahrgemeinschaften in den Kindergarten oder zur Schule könnten entlasten.

Strategien für belastende Situationen

Hilfe holte sie sich in der damaligen Überforderungssituation dann aber doch noch – zunächst beim Hausarzt. Der verschrieb ihr eine Haushaltshilfe und eine Mutter-Kind-Kur – mittlerweile eine Pflichtleistung der Krankenkasse. „Das war mit der Anreise zwar auch anstrengend, aber ich kann das nur empfehlen“, sagt die Rheinländerin, die kürzlich noch eine zweite Kur gemacht hat.
Mutter- oder auch Vater-Kind-Kuren dauern in der Regel drei Wochen und beinhalten Bewegungs- und Entspannungsübungen und ‑angebote, psychotherapeutische Gespräche, Erziehungs-, Gesundheits- und/oder Ernährungsberatung sowie Vorträge und Filme. „Der Film ‚Wege aus Brüllfalle‘ hat mir damals regelrecht die Augen geöffnet“, so Behrents. Das Kind bzw. die Kinder werden während des Programms betreut. Ziel ist nicht nur eine kurzfristige Erholung, sondern auch Strategien an die Hand zu bekommen, langfristig mit belastenden Situationen besser umzugehen.

Alle vier Jahre können Eltern auf Rezept des Hausarztes eine solche Kur beantragen. Allerdings lehnten die Krankenkassen den Erstantrag oft ab, sagt Bettina Behrents, so auch bei ihr. „Viele wissen nicht, dass man Widerspruch einlegen kann.“ Im zweiten Anlauf habe es dann geklappt.

Freiraum und klare Regeln

Heute sind Bettina Behrents‘ Kinder sieben und zehn Jahre alt. Die herausfordernden Situationen seien zwar nicht unbedingt weniger geworden. Wo früher das morgendliche Fertigmachen Probleme bereite, seien es jetzt etwa die Hausaufgaben. Erst kürzlich sei sie mit ihrem Sohn wegen einer vermeintlichen Nichtigkeit aneinandergeraten. Insgesamt sei sie aber gelassener geworden, versuche Situationen spielerisch zu lösen und lasse auch mal „Fünfe gerade sein“. „Mit Druck erreicht man oft nur das Gegenteil: dass die Kinder erst recht zumachen und die Situation eskaliert.“ Inkonsequent? „Vielleicht“, sagt die Erzieherin, „aber man muss entscheiden, was wichtig genug ist, um darauf zu bestehen und es dann auch durchhalten zu können. Kinder brauchen klare Regeln und Grenzen, gemeinsame Rituale, aber auch viel Freiraum. Wenn man immer nur ‚nein‘ sagt und verbietet, nehmen sie das nicht mehr ernst.“

Bettina Behrents hat nach Ihrer zweiten Elternzeit ihre damalige Erzieherstelle aufgegeben und gibt ihre Erfahrungen heute in einer Beratungsstelle an Eltern weiter, die – wie sie damals – Unterstützung brauchen. Sie rät betroffenen Eltern, sich bei derartigen Stellen Hilfe zu holen. Beim Netzwerk Frühe Hilfen, das es in vielen Städten gibt, bei Hebammen, beim Hausarzt, in Erziehungseinrichtungen, bei den Wohlfahrtverbänden, beim Jugendamt oder natürlich auch beim Kinderschutzbund – „es gibt überall Leute, die einem wohlgesonnen sind, helfen oder Hilfe vermitteln.“     


* Da die Familienangehörigen lieber anonym bleiben möchten, hat die Redaktion ihre Namen geändert.

  • Gehen Sie aus den überfordernden Situationen raus und atmen erst mal durch.
  • Schaffen Sie (spielerische) Anreize, statt zu drohen.
  • So widersprüchlich es auch klingt: Nehmen Sie einen Umweg, wenn Sie es eilig haben – zumindest wenn auf dem kürzesten Weg der Spielplatz oder die spannende Baustelle liegt.
  • Versuchen Sie etwas mehr Gelassenheit: Reglementieren Sie nicht alles, sondern geben Sie Ihrem Kind auch Freiräume und lassen auch mal Fünfe gerade sein. Aber:
  • Seien Sie bei wichtigen Regeln konsequent.