Symbolfoto: DKSB/Susanne Tessa Müller
Symbolfoto: DKSB/Susanne Tessa Müller
 

Auch Eltern haben Angst vor schlechten Noten

24. Juni 2024, Nicole Vergin

Das Schuljahr geht in Nordrhein-Westfalen locker zu Ende. Jetzt stehen vielerorts Ausflüge, Spiele und andere entspannte Aktivitäten auf dem Stundenplan. Aber bei vielen Kindern und Jugendlichen wird in diesen Tagen ein unangenehmes Gefühl immer stärker: Sie fürchten sich vor dem Zeugnistag und davor, ihren Eltern schlechte Noten zeigen zu müssen – oder solche, die sie für nicht gut genug halten.

Isabel Ruland aus Bonn ist Pädagogin und Autorin. MENSCHENSKINDER hat mit ihr darüber gesprochen, wie Väter und Mütter mit schlechten Noten angemessen umgehen können.

 

Warum sind die Zeugnisse in vielen Familien mit so viel Stress verbunden?

Isabel Ruland: Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass viele Eltern die schulischen Leistungen ihrer Kinder mit eigenen Gefühlen vermischen. Das macht es so kompliziert. Die Zeugnisse (oder allgemein Noten) sollen eigentlich den aktuellen Leistungs- und Entwicklungsstand des Kindes widerspiegeln. Könnten Eltern das nüchtern so sehen, wäre schon viel gewonnen. Aber für Eltern spiegeln die Noten viel mehr wider.

 

Was bedeuten Zeugnisse denn für Eltern genau?

Isabel Ruland: In den Zeugnissen liegen die Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, gut in der Schule zu sein, gute Startchancen zu bekommen und sich mit anderen messen zu können, ohne „Letzter“ zu sein. In den Zeugnissen liegen auch die zukunftsgerichteten Erwartungen und Sorgen der Eltern, ihre Kinder in einem immer schärfer umkämpften Ausbildungs- und Studienwettbewerb nicht bestehen zu sehen, die Sorge, dass „nichts aus ihnen wird“, zumindest nicht das, was sie sich vorstellen und was sie für angemessen halten. Und in den Zeugnissen liegt ein Versagen, das Eltern als ihr eigenes empfinden, nicht genügt zu haben. All das hat nichts mit dem Kind und seiner eigenen Leistung zu tun, sondern projiziert in die schulischen Leistungen – sichtbar in den Zeugnisnoten – einen großen Berg elterlicher Gefühle, die Kinder zu schultern haben wie tonnenschwere, luftraubende, erdrückende Rucksäcke.

 

Wie können Mütter und Väter denn aus diesem Gefühls-Mix herauskommen?

Isabel Ruland: Sich dessen bewusst zu sein, ist schon ein großer Schritt. Wichtig finde ich auch, das Zeugnis aus den Augen des Kindes zu sehen. Kein Kind will schlechte Noten haben. Das kratzt enorm am Selbstwertgefühl, das sich in der Kindheit und Pubertät erst ausbildet und entwickeln können muss. Eine schlechte Note und alles damit Verbundene ist eine große Belastung, die mit Scham verbunden ist. Ein schweres Päckchen.

 

Wie sollte ich als Mutter oder Vater im Sinne des Kindes mit schlechten Noten umgehen?

Isabel Ruland: Der erste Rat: Seien Sie verständnisvoll. Verständnisvoll sein heißt in erster Linie, durch die Augen des Kindes zu schauen, durch seine Seele zu fühlen und sich selbst zurückzuhalten. Wenn Eltern das schaffen, haben sie den wichtigsten Schritt getan: die eigenen Gefühle von den vermeintlich dafür verantwortlichen Leistungen des Kindes entkoppelt. Ganz wichtig finde ich auch: keine Strafen. Die Strafe wird nicht dafür sorgen, dass das Kind ein Jahr später ein besseres Zeugnis haben wird. Wahrscheinlich aber wird es Angst haben, fühlt sich allein gelassen und traurig. Es macht die Erfahrung, dass es mit „schlechten Nachrichten“ nicht vertrauensvoll zu Ihnen kommen kann. Wenn Sie „zur Strafe“ Ihr Kind (vorerst) nicht mehr zum Fußball gehen lassen oder es sich nicht mehr mit Freunden treffen lassen, nehmen Sie dem Kind die Bereiche, in denen es gut ist und Anerkennung findet. Das Kind hat dann gar nichts mehr, was positiv wirken kann, worin es Erfolg hat und Stolz und Freude spüren kann. Das nimmt ihm Kompensationsmöglichkeiten, die es braucht, um den schulischen Misserfolg verarbeiten zu können.

 

Was reagiere ich denn gut?

Isabel Ruland: Egal wie Sie reagieren – an den Noten auf dem Papier ändert sich nichts mehr. Was sich durch Ihre Reaktion aber ändern kann, sind die Gefühle des Kindes. Wichtig ist: kein Strafen, kein Schimpfen, kein Schreien. Schauen Sie das Zeugnis gemeinsam an. Stellen Sie fest, was Sie beide „doof“ finden. Das reicht als Bewertung schlechter Noten und nimmt den Druck weg. Fragen Sie, welchen Grund Ihr Kind für eine schlechte Note sieht, und trösten es. Wertschätzen Sie alle Fächer. Eine gute Note in Physik oder Religion ist genauso eine Folge der Leistung und Anstrengung des Kindes wie in Deutsch oder Mathe. Gehen Sie am letzten Schultag ein Eis essen. Keine Angst, Sie „belohnen“ damit nicht ein schlechtes Zeugnis, sondern Sie wertschätzen ein anstrengendes Schuljahr. Vereinbaren Sie mit dem Kind, dass in den Ferien nun erstmal eine Pause ist und sich alle erholen können. Ein paar Tage später können Sie mit dem Kind besprechen, was im neuen Schuljahr anders gemacht werden kann. Suchen Sie nach den Ferien Kontakt zur Schule und bitten um Beratung.

Das Wichtigste aber ist: Ihre Beziehung zu Ihrem Kind, Ihrem Jugendlichen ist wichtiger als das Zeugnis. Schlechte Noten kann man verbessern, eine beschädigte Eltern-Kind-Beziehung schwerlich. Geben Sie dem Zeugnis also in der Familie den angemessenen Platz: Es ist wichtig, steht aber niemals auf Platz 1.

 

Tipp zum Weiterlesen

Isabel Ruland hat einen längeren Text über schlechte Schulnoten geschrieben. Darin stehen auch Tipps, wie Eltern ihre Kinder dabei unterstützen können, ihre Noten langfristig zu verbessern. Diesen Text finden Sie hier. Vielen Dank dafür.

 

Unterstützung bei Schulsorgen